Zeynep, warum braucht es Gleichstellungsberichte? Was leisten diese?
Die Gleichstellungsberichte sind bedeutsam, weil sie ein mehrdimensionales und detailliertes Bild der Gleichstellung der Geschlechter in Deutschland unter Berücksichtigung verschiedener sozioökonomischer Themen zeigen. Sie decken bestehende Herausforderungen auf und zeigen uns mögliche Lösungsansätze. Die Berichte werden dann in der Regel im Plenum und in Fachausschüssen von Bundestag und Bundesrat vertieft diskutiert. Auf diese Weise spielen sie eine zentrale Rolle in der Gleichstellungspolitik.
Was war dein Erkenntnisinteresse?
Meine Expertise konzentriert sich auf die (potenziellen) Auswirkungen der Dekarbonisierung in der Automobilindustrie auf die Geschlechtergleichstellung am Arbeitsplatz in der Automobilindustrie. Der Begriff „Dekarbonisierung“ bezieht sich dabei auf die Reduzierung oder Aufhebung der Treibhausgasemissionen eines Kraftfahrzeugs über seinen gesamten Lebenszyklus, also von Herstellung über seine Nutzung bis zum Recycling.
Du untersuchst die Geschlechtergleichstellung innerhalb der Automobilindustrie, was macht die Branche so besonders?
Die Automobilindustrie ist ein zentraler Bereich der sozial-ökologischen Transformation in Deutschland und der EU. Sie setzt stark auf die Methode der Elektrifizierung zur Dekarbonisierung. Zwar sind damit verbunden gesamtwirtschaftlich erstmal keine massiven Jobverluste zu erwarten, doch auf individueller Ebene entstehen durch veränderte Qualifikationsanforderungen und Arbeitsplatzverlagerungen neue Herausforderungen. Dieser Wandel ist nicht geschlechtsneutral: Während Männer stärker vom Arbeitsplatzabbau in den praxisnahen Bereichen betroffen sind, begegnen Frauen Risiken wie der Automatisierung von Prozessen. Eine mögliche Qualifizierungslücke kann sich schon viel früher in der Ausbilung bilden, denn es herrscht immernoch eine viel geringere Beteiligung von Frauen in den MINT-Bereichen. Ebenfalls nehmen Frauen seltener an Weiterbildungen teil, da sie sich oft vom Weiterbildungsangebot nicht angesprochen fühlen. Zugleich bieten aber KI und Automatisierung Chancen zur Förderung weiblicher Fachkräfte. Für eine geschlechtergerechte Transformation sind gezielte Instrumente nötig.
Welche größte Herausforderung siehst du für die Zukunft?
Die zentrale Herausforderung für Arbeitskräfte liegt in technologischen und strukturellen Veränderungen – etwa in der Produktion, der Wertschöpfungskette, durch Auslagerung ins Ausland und Arbeitsplatzabbau, sowie dem Bedarf an neuen Qualifikationen. Gleichzeitig können männlich dominierte Strukturen und die vertikale Geschlechtersegregation, also die ungleiche Verteilung von Frauen und Männern in den verschiedenen Stufen der Betriebshierarchie, in der Automobilindustrie weiterhin bestehen bleiben.
Kannst du Handlungsempfehlungen geben?
Für jede dieser obengenannten Herausforderungen müssen gezielte Top-down- (gesetzliche) und Bottom-up-Maßnahmen (Tarifverhandlungen, Mitbestimmung, Instrumente auf Unternehmensebene) eingeführt werden.
Die demokratische Dekarbonisierung der Automobilindustrie erfordert die Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Umwelt- und Frauenbewegungen, um eine nachhaltige und sozial gerechte Industriepolitik zu gestalten. Dabei muss die Transformation geschlechtergerecht gestaltet werden: „Just Transition“ Strategien sind mit Gleichstellungsmaßnahmen zu verknüpfen.
Unternehmen sollten Frauen gezielt durch Weiterbildung in KI- und Automatisierungstechnologien stärken, um ihre Arbeitsplatzsicherheit zu erhöhen. Der Anteil von Frauen in Entscheidungspositionen – etwa in Gewerkschaften, Betriebsräten und MINT-Berufen – gezielte Förderung gesteigert werden, auch Quoten können helfen. In neuen „grünen“ Sektoren wie der Batteriezellenproduktion müssen Tarifverträge und Betriebsräte faire Arbeitsbedingungen gewährleistet werden.
Ebenfalls ist eine datenbasierte Gleichstellungspolitik notwendig: Die systematische Erhebung geschlechtsspezifischer Daten ist entscheidend, um bestehende Ungleichheiten in der Automobilindustrie und verwandten Branchen sichtbar zu machen und wirksam zu bekämpfen. Außerdem erfordert eine demokratische Dekarbonisierung der Automobilindustrie die Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Umwelt- und Frauenbewegungen, um eine nachhaltige und sozial gerechte Industriepolitik zu gestalten. Natürlich ist eine ganzheitliche Betrachtung der ökologischen Auswirkungen unerlässlich – neben den Emissionen pro Kilometer müssen alle Umweltfolgen von Elektrofahrzeugen über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg berücksichtigt werden. Gleichzeitig bedarf es der Förderung alternativer Mobilitätsansätze, die Investitionen in öffentliche Verkehrssysteme, multimodale Mobilität (z.B. Shared Mobility) und nicht-motorisierte Mobilität unterstützen.
Wo liegen die Chancen für die Arbeitnehmer:innen?
Die Elektrifizierung schafft neue Jobs in Bereichen wie Batterieproduktion, Recycling und IT, erfordert aber gezielte Aus- und Weiterbildung. Weitere Chancen ergeben sich durch einen ganzheitlichen Wandel des Mobilitätssystems mit Investitionen in öffentlichen Verkehr und der demokratischeren Nutzung des öffentlichen Raums. Eine sozial-ökologische Industriepolitik, die z. B. E-Bikes oder erneuerbare Energien fördert, kann zusätzlich neue Arbeitsplätze schaffen.
Wie kann die Arbeitnehmer:innenvertretung den Prozess der Gleichstellung unterstützen?
Meiner Meinung nach muss die Arbeitnehmer:innenvertretung starke Allianzen mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie der ökologischen Bewegung und der gezielten Frauenförderung eingehen, um ein umfassenderes Verständnis von Transformation zu erreichen und entsprechend Strategien zu entwickeln. Daher sind Gleichstellungsberichte so wichtig, denn sie helfen diese Strategien zu entwickeln. Sie zeigen die aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Themen und ihre Verbindung zu den geschlechterspezifischen Ungleichheiten aufzeigen, um demokratische und umfassende Transformationsstrategien zu entwickeln. Es war eine großartige Gelegenheit für mich als Wissenschaftlerin, dieses Thema in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Gleichstellung zu untersuchen.
Die gesamte Expertise von Zeynep könnt ihr hier lesen. Den vollständigen Vierten Gleichstellungsbericht findet ihr auf der Webseite der Bundesstiftung Gleichstellung.