Hugo Sinzheimers wissenschaftliche Karriere begann im frühen 20. Jahrhundert. Er war an verschiedenen Universitäten als Dozent und Professor tätig. Zu den Stationen seiner akademischen Laufbahn zählt unter anderem die Universität Frankfurt am Main. Außerdem war er politisch engagiert: Als Mitglied des Frankfurter Stadtparlaments, kurzzeitig als Polizeipräsident während der Novemberrevolution und schließlich als sozialdemokratischer Abgeordneter in der Weimarer Nationalversammlung. Das zeigt wie tief bei ihm politische Überzeugung und wissenschaftliches Engagement ineinandergriffen. Im Jahr 1933 musste er als Jude und Sozialdemokrat fliehen, ins Exil in den Niederlanden; dort blieb er bis zu seinem Tod 1945. Eine tragische Zäsur, die uns umso mehr mahnt, seine Werte zu verteidigen.
In Frankfurt war Sinzheimer eine prägende Figur – er wirkte an der Schnittstelle von Gewerkschaften, Universität und politischer Praxis. Es war auch er, der der Stadt ihr Profil als Zentrum der Arbeits- und Sozialforschung gab. Sinzheimer erkannte, dass Arbeitsrecht nicht nur ein Anhängsel des Privatrechts sein kann. Seine Kernthese war: Arbeitsverhältnisse sind keine rein privatvertraglichen Beziehungen. Sie sind eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse, die das Recht ausgleichen und kollektive Handlungsformen ermöglichen muss. Er schrieb dazu in seinem Hauptwerk “Grundzüge des Arbeitsrechts“:
„Arbeitsrecht ist soziales Recht“
Für Sinzheimer war die Rechtswissenschaft untrennbar mit der gesellschaftlichen Realität und einem politischen Gestaltungswillen verbunden. Er wollte, dass Recht wirksamund demokratisch ist,dass es soziale Gerechtigkeit schafft. Er forderte: „Die Rechtswissenschaft muss sich der sozialen Realität öffnen.“ Das heißt: Wer Rechtsnormen vorschlägt oder analysiert, muss ihre gesellschaftliche Wirksamkeit und ihre institutionellen Voraussetzungen mitdenken. Dieses Verständnis von Recht, Wissenschaft und Gesellschaft führte zur Gründung einer Institution, die für uns heute von zentraler Bedeutung ist: die Akademie der Arbeit im Jahr 1921. Sinzheimer war einer ihrer Gründungsväter. Die Akademie verstand und versteht sich bis heute als Ort, an dem juristisches, ökonomisches, soziologisches und sozialpolitisches Wissen über Arbeit systematisch aufbereitet, gelehrt und erforscht wird. Sie ist ein Treffpunkt für Gewerkschafter:innen, Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen. Dieses Erbe lebt heute in der Europäischen Akademie der Arbeit und der University of Labour fort, die Forschung, Lehre und Beratung zur demokratischen Gestaltung von Arbeit betreiben.
Warum ist Sinzheimer heute noch so aktuell?
Weil die grundlegenden Probleme, vor denen er stand, sich in neuer Form wiederholen: Machtungleichgewichte zwischen Kapital und Arbeit. Neue Formen der Kontrolle – damals die Fabrikdisziplin, heute Algorithmen, Plattformen, Künstliche Intelligenz. Und die immer wiederkehrende Frage: Wie können wir kollektive Selbstvertretung in einer immer komplexeren, digitalisierten Arbeitswelt organisieren?
Im Rahmen des Hugo Sinzheimer Symposiums am 21. November stellten wir uns genau diesen drängenden Fragen: Wie gestalten wir unsere Arbeitswelt demokratisch? Wie begegnen wir technischen Möglichkeiten im Rahmen der Mitbestimmung?
Dabei geht es nicht um abstrakte akademische Übungen, sondern um das Leben aller Beschäftigten. Es geht um Teilhabe, um Schutz vor Ausbeutung, um faire Verteilung von Macht und Wertschöpfung. Es geht darum, wie Algorithmen, Plattformen und Kl diese Kräfte neu ordnen und wie wir darauf reagieren. Hier spielt Bildung und Wissenschaft eine doppelt zentrale Rolle. Wir müssen Kompetenzen vermitteln, nicht nur technische Skills, sondern auch Rechts- und Medienkompetenz, Reflexionsfähigkeit und Organisationserfahrung. Soziale Selbstbestimmung entsteht nicht von selbst. Sie braucht informierte, organisierte und vernetzte Menschen, die ihre Interessen artikulieren und durchsetzen können.
Der Text ist ein Auszug aus der Begrüßungsrede von Prof. Dr. Martin Allespach zum Sinzheimer Symposium am 21.11.2025.






